Zwischen Iser und Neisse (B)

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Zwischen Iser und Neisse! 13 1900

Die Besatzsteinindustrie.

Bevor wir einen Blick in die Arbeitsstätten werfen in denen die Besatzsteine erzeugt werden, will ich ein allgemeines Bild, eigentlich nur eine Übersicht, vorausschicken. Unter Besatzsteinen faßt man alle aus verschiedenfärbigem, zumeist aber aus schwarzem Glas erzeugten Glassteinchen zusammen, die als Hutbesatz und zu Posamenterien verarbeitet, zumeist auch zu Toiletten verwendet werden. Die Besatzsteine sind also, wie die meisten Erzeugnisse der Glaskurzwarenindustrie des Isergebirges, ein Luxusartikel. Ihre Form ist mannigfaltig: durchlochte Druckperlen (Flüssel), Sechsecke, Vierecke, Sterne, Spitzovale, Birnl, Kreuze, Kleeblätter, Pfeile und Hunderte anderer Figuren und Formen, die sich allgemein verständlich nicht speziell bezeichnen lassen, werden hier in den Größen von 1œ bis 6 Linien in den Druckhütten von Labau, Pintschei, Stiftei, Schwarzbrunn etc.. im kleingewerblichen Betrieb und in den tschechischen Dörfern des Semiler und Turnauer Bezirkes im hausindustriellen Betrieb über der Öllampe gedrückt. Wir haben es bei einer Gesammtzahl von etwa 3000 männlichen und weiblichen Arbeitern (Drückern, Anfädlerinnen, Anhefterinnen) in der Besatzsteinindustrie also mit zwei verschiedenen Betriebsformen zu tun: mit der kleingewerblichen und mit der hausindustriellen. Die Lage der hausindustriellen Arbeiter, der sogenannten Lampenarbeiter, ist die weitaus schlimmere. Sie vergleicht Robert Preußler in einem Artikel der „Sozialen Praxis“ mit der Lage der Arbeiter in den Schwefelgruben Siziliens. Aus eigener Anschauung kann ich diesem Gleichniß nicht beipflichten. Wohl aber kann ich die Lage der hausindustriellen Besatzsteinarbeiter mit der der mährisch-schlesischen Weber vergleichen. Die Wirkung dieser Arbeit auf das Leben der Arbeitenden ist da und dort eine gleich schlimme. Die Entfernung von einem Zustand, den man menschenwürdig nennen könnte, ist bei den tschechischen Lampenarbeitern eher noch eine größere: ihre Arbeit ist gefährlicher, gesundheitsschädlicher als die Arbeit der schlesischen Weber. Ansätze zu einer Besserung sind kaum vorhanden, die große Welt weiß noch nichts von dem furchtbaren Elend, das in diesen Dörfern zu Hause ist. Auch in dieser Richtung ist die Lage der Lampenarbeiter noch schlimmer als die der schlesischen Weber. Den größeren Raum der nun folgenden Schilderung wollen wir darum auch den Lampenarbeitern einräumen.

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Bei den Lampenarbeitern.

Es war 7 Uhr Morgens, als wir von Pintschei abmarschierten. Heute sollten wir ins „Biehm’sche“ gehen, wie im Isergebirge die südlich von Gablonz im Semiler und Turnauer Bezirk liegenden tschechischen Ortschaften, in denen die Lampendrücker hausen, mit einem zusammenfassenden Ausdruck genannt werden. Das „Biehm’sche“ ist im Isergebirge der Ausdruck höchsten Elends, dort ist, das weiß jedes Kind, die größte Not Gebieterin, und dort lauert auch stets die Gefahr für das nördliche Glasmacherland. Nur die stete Aufklärungsarbeit unserer Parteigenossen verhindert es, daß die Erkenntnis: „Aus dem „Biehm’schen“ droht uns Gefahr“, nicht den falschen Schluß reift, daß die dort wohnenden, rastlos schaffenden tschechischen Lampendrücker des Hasses der deutschen Glasarbeiter wert sind. Nicht das Gefühl des Hasses bringt das Isergebirge den 3000 tschechischen Lampen-und Lohndrückern und ihren rastlos mitarbeitenden Frauen und Kindern entgegen, sondern brüderliches Mitleid. Darunter mischt sich allerdings ernste Sorge: die Sorge, daß die Lampendrücker in absehbar kurzer Zeit den Artikel, den sie erzeugen, die schwarzen Besatzsteine für Posamenterien, durch Überproduktion und Erzeugung schlechterster Ware niederkonkurrieren werden, und daß sie sich dann, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, auf einen anderen hausindustriellen Artikel werfen werden. Die blinde Profitwut der Gablonzer Exporteure wird davor nicht zurückschrecken, der billigen tschechischen Arbeitskraft einen neuen Artikel auszuliefern, dessen Preis bisher im Isergebirge, wo wahrlich auch Elend genug zu schauen ist, von den Arbeitern dank der Organisation mit zäher Ausdauer gehalten wurde.

Die Lampendrücker – sie heißen so, weil sie über einer kleinen Öllampe mit einer Stichflamme aus den Schwarzglasstengeln Besatzsteine drücken – sind „freie“ Arbeiter. Sie selbst müssen das Rohmaterial und alle Betriebsmittel kaufen, und dann nimmt ihnen der Lieferant, in vereinzelten Fällen wohl auch der Exporteur, direkt ohne Zwischenhand die fertiggestellten Waren ab. Die „freien“ Arbeiter sind bedürfnislos, durch Elend herabgekommen, völlig widerstandslos. Mit ihnen können die deutschen Unternehmer und Exporteure und die 34 meist tschechischen Lieferanten machen, was sie wollen. Eine Andeutung, daß es ein Anderer billiger macht, eine versteckte Drohung genügt, und jeder einzelne Lampenarbeiter wird den Preis drücken lassen, sowie sich auch die Lieferanten im Preise drücken lassen. Heute haben die Preise schon so ziemlich die unterste Grenze erreicht. Bei 15- bis 16stündiger Arbeitszeit sind die besten „Löhne“ das ist der Preis, der für die Arbeistkraft gezahlt wird, 30 und 40 kr. Einen höheren Lohn als 40 kr. habe

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ich auf meiner zweitägigen Wanderung durch die tschechischen Dörfer überhaupt nicht gefunden – wohl aber sehr häufig, namentlich bei den vielen Frauen, niedrigere Löhne. In einem solchen Falle kam bei der Berechnung des Lohnes ein Stundenverdienst von etwas über 1 kr. heraus. 15 Stunden Arbeit – 18 kr. Lohn! Gemildert wird dieses Beispiel nur dadurch, daß auch der für das „Anreihen“ der durchlochten Steinchen entfallende Verdienst im Hause bleibt, das heißt, daß der betreffenden Arbeiterin ihre jüngeren Geschwister zur Seite standen, die in den schulfreien Stunden, wenn es sein muß, wohl auch anstatt der Schularbeit, die Arbeit des „Anreihens“ oder „Anfädelns“ besorgen müssen.

Nach einer in dem zitierten Artikel Preußler’s enthaltenen Aufstellung erfuhren die Verkauspreise der Lieferanten in der Hausindustrie folgenden Rückgang von 1894 bis 1898:

für

1œ"

1Ÿ"

2"

2œ"

3"

3œ"


1894

15œ

17œ

20

26

32

42

1898

14

19

27

Die Preise der gangbarsten Sorten,zum Beispiel der anderthalblinigen Flüssel, betrugen also im Jahre 1998 nahezu ein Drittel der Preise, die im Jahre 1894 gezahlt wurden. In diesen Ziffern ist zugleich die Herabsetzung der Löhne ausgedrückt, die die Lampendrücker durch Erhöhung der Arbeitszeit, durch Schleuderarbeit und durch Verwendung von weichen Glases, aus dem sie bis zu 60 Steinchen auf einmal drücken können, wettmachen wollen. Aber alles dies bewirkt nur eine weitere Verschlechterung der Qualität und infolgedessen einen Rückgang des Artikels, in letzter Linie also den Ruin des Artikels und damit den Ruin der Arbeiter.

Die Hauptnahrungsmittel dieser armen Menschen sind Kartoffel, die zerrieben und dann erst gekocht werden, Sauersuppe (Sauerteig, in Wasser gelöst) und Brot. Ihre Wohnungen spotten jeder, selbst der primitivsten Hygiene – wen könnte es da noch wundern, daß ein auf dem Weltmarkt geschultes Unternehmertum sich solche Widerstandslosigkeit zunutze macht und aus den armen Menschen herauspreßt, was herauszupressen ist. Daß die Gablonzer Exporteure damit auch einen früher viel begehrten Artikel, die Besatzsteine oder Posamentrieperlen, wie man sie auch nennen könnte, ruinieren oder vielmehr schon ruiniert haben, das haben diese kurzsichtigen Herren auf dem Weltmarkt nicht gelernt. Sie haben ja auch die Hohlperle und die Kristallartikel schon nahe an den Abgrund gebracht, und auch in der Serviettenringbranche sind bereits ernste Krisen eingetreten. Man kann ruhig sagen, hätten nur die Gablonzer Exporteure den Gang der Dinge zu bestimmen, so wäre ihnen das selbstmörderische Niederkonkurrieren

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aller dieser Artikel schon längst gelungen. Aber es haben bei allen diesen Artikeln mächtigere Faktoren eingegriffen. Die im November 1898 gegründete Produktivgenossenschaft der Hohlperlenbranche mit ihrem Versandthaus in Gablonz, die Kristalleriekonvention und vor Allem die gewerkschaftliche Organisation der Glasarbeiter, die alle diese wirtschaftlichen Bünde möglich machte, sind die Schranken, die auch die Gablonzer Millionäre nicht übersteigen können.

Anders im Tschechischen. Die widerstandslosen, abgestumpften, verelendeten Lampendrücker sind unter den heutigen Verhältnissen außer Stande, durch eigene Kraft, durch die Macht einer Organisation sich wieder aufzuraffen. Dies zeigte sich im Herbst 1898. Die Lieferanten, Exporteure und Rohglaserzeuger hatten sich am 4. September zusammengetan, um zu der Bewegung der Glasdrücker Stellung zu nehmen, die im August entstanden war. Man einigte sich dahin, sowohl in der Druck- als in der Lampenbranche Konventionen abzuschließen. Diese kamen auch unter Mitwirkung der Reichenberger Handelskammer zu Stande. Sie bezweckten Abschaffung der Doppelformen (in der Druckbranche) und des weichen Glases, sowie Beseitigung der Konkurrenz durch Einführung von Minimallöhnen und Minimalverkaufspreisen. Da der Bedarf nicht so groß war, um alle Arbeiter zu den neuen Löhnen beschäftigen zu können, vereinbarten die Lieferanten und Arbeiter einen Perzentsatz, der an die Arbeitslosen bezahlt werden mußte, damit diese nicht gezwungen wären, billiger zu arbeiten. So hielten die Arbeiter 21 Wochen unter Entbehrungen im Streit aus, der zwar nur von den Druckhüttenarbeitern geführt wurde, dennoch aber eine gemeinsame Angelegenheit der Drücker und Lampenarbeiter war. Die Lampendrücker erklärten sich mit den Druckhüttensklaven solidarisch, und ihre Forderungen wurden mit denen der Drücker verhandelt. Als dann aber nach dem Streit noch immer nicht die erwarteten Aufträge kommen wollten, begann wider die alte, blinde, wilde Konkurrenz, der Selbstmord der Industrie. Heute ist die Lage der Besatzsteinarbeiter, namentlich in der Lampenbranche, schlimmer denn je. Sie haben nicht mehr die eigene Kraft sich aufzuraffen. So wie bei den Perlenarbeitern des Isergebirges im Jahre 1898 der Staat helfend eingreifen mußte, um zu erzielen, daß die Produktivgenossenschaft, die einzige Rettung für die Perlenarbeiter, aber auch für die Hohlperlenindustrie, sofort ins Leben trete, so muß auch hier der Staat rasch eingreifen. Die Konvention muß staatlich garantiert werden. Das heißt, der Staat muß in den Säckel greifen und bei Neubelebung der Konvention durch Unterstützung der Arbeitslosen es möglich machen, daß die Konvention einheitliche Minimalpreise auf dem Markt durchsetzten kann. Dies dauert immerhin eine Weile.

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Zum Ausharren gehört aber Kapital. Dieses gebe der Staat. Nur so kann eine Gesundung der Verhältnisse eintreten, nur so kann dem permanenten Notstande mit allen Gefahren, die er in sich birgt, ein Ende gemacht werden. Dies ist eine unabweisliche Pflicht des Staates, der sich keine Regierung verschließen kann und darf. In den von Lampendrückern bewohnten Dörfern des Semiler und Turnauer Bezirkes herrscht ein furchtbarer Notstand. Die Regierung helfe!

Was in ihrer Macht steht, das werden die Arbeiterorganisationen beitragen, um der Gefahr vorzubeugen, daß der Heuschreckenschwarm der ausgehungerten tschechischen Lampenarbeiter sich auf ein neues Arbeitsfeld niederlasse – aber es besteht nicht nur diese Gefahr. Es droht eine weit größere, der die Arbeiterorganisationen im Isergebirge keinen Damm setzten können. Der Hunger ist ein Rebell. Einige entschlossene Menschen, die einen ruhigen Verlauf der Dinge nicht wünschen oder deren Erkenntnis noch nicht so weit vorgeschritten ist, können alle diese Elendsgestalten in wenigen Tagen auf die Beine bringen und sie heißen, das Joch gewaltsam abzuschütteln. Was dann? Hat die Regierung schon die Tage von Wiesenthal vergessen, wo dieselben tschechischen Glasarbeiter, die damals der Konkurrenz der Schmelzsprengmaschine weichen mußten, eben diese Sprengmaschinen zertrümmerten, ihr Produkt vernichteten? Hat die Regierung schon vergessen, daß damals zwei Arbeiter von den Gendarmen erschossen, einige verwundet und andere verhaftet wurden, die insgesammt zu sechsundreißig Jahren schweren Kerkers verurteilt wurden? Dem Winter 1889/90 kann ein gleich schlimmer folgen, der Ausbrüche des Hungerwahnsinns und der Verzweiflung bringt. Will die Regierung auch hier wieder die Sozialpolitik der Flintenläufe und Bajonette treiben? Mögen diese Zeiten maßgebenden Ortes eine ernste Warnung sein!

In den folgenden Skizzen will ich ein wahrheitsgetreues Bild des Elends der Lampenarbeiter entwerfen. Es wird anschaulich machen, was in den einleitenden Worten dieses Abschnittes gesagt wurde.

*

Der erst Eindruck. Der Maimorgen war frisch. Als wir die schmutzige Dorfstraße von Brezilow erreicht hatten, brauchten wir nicht lange nach einem Elendsbild zu suchen. Wer sehen will, kann sehen. An einigen niedrigen Hütten vorüber, kamen wir zur Schule: Ein einstöckiger Steinbau, der erhöht liegt; davor ist eine Rampe, deren Brüstung aus Steinen gemauert ist. Auf dieser sitzen die Schulkinder. Es ist Ÿ 8 Uhr Morgens. Sie warten auf den Schulbeginn. Ich sehe nur Beine, nackte Beine über die Mauer herunterbaumeln. Dreißig Beinpaare zähle ich,

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aber nur zwei Paare sind beschuht. 28 Kinder unter 30 gehen an dem fast kalten Maimorgen – zwei Tage vorher hatten wir in Gablonz noch Schnee – barfuß zur Schule. Haben sie keine Schuhe? Oder ist es die Lust am Barfußgehen? Wer die zarten, mageren Kindergerippe näher besieht, wer die dünnen Höschen und die zerissenen und zerschlissenen Röcke sieht – der wird wissen, daß die meisten dieser barfüßigen Jungen und Mädchen keine Schuhe haben. Woher sollen sie auch Schuhe haben? Sie sind ja Lampendrückerkinder!

*

Bei einer Wöchnerin. Mein Führer und Dolmetsch, selbst ein Lampenarbeiter und nebenbei Dorfschneider, biegt bei der Schule ab und geht in eines der Häuschen voran. Die ebenerdigen Häuschen scheinen ganz aus Holz gebaut. Die meisten sind es auch. Der Eingang in das Haus ist rückwärts. Über einige aufsteigende Bretter kommen wir in einen gezimmerten Vorgang, an dessen Ende sich der offene Abort befindet. Gleich zur Linken führt eine Türe in das Hausinnere. Rohe Bretterwände begrenzen den Flur, der mit allerlei Hausgerät angeräumt ist. Zur Linken ist eine von außen mit Stroh gepolsterte Türe. Wir treten ein. Zunächst sehe ich nichts. Heißer, öliger Dunst schlägt uns entgegen. Es verschlägt mir den Atem. Mein Dolmetsch ist schon mitten im Zimmer – ich zögere noch, gebannt von dem ersten Anblick der Stube. Links neben der Türe steht ein breites Bett. Darin liegt, in Lumpen gekleidet, ein etwa 30jähriges Weib. Ihr gelbes Gesicht hat sie dem Fenster zugewendet. Sie nimmt von unserem Kommen nicht Notiz. Rechts benimmt mir ein großer Kachelofen, der mit allerlei Küchengeschirr angeräumt ist, die Aussicht. Daneben, mehr der Mitte des Zimmers zu, sehe ich das Rückenbild einer Frau, die über etwas gebeugt ist. Nähertretend sehe ich, daß sie einen Säugling in einer Holzwanne badet. Ein häßliches Kind! Es erinnert mich an die menschlichen Zerrbilder, die in der Kinderbrutanstalt der Wiener Ausstellung 1898 zu sehen waren. Ein großer Kopf, braunrot und wenig behaart, sitzt auf einem entsetzlich mageren Körper. Die Rippen treten besonders hervor. In dem häßlichen Wurm, der der Fünftgeborene der gelben Frau ist, ist keine Lebensfreude. Er läßt sich ruhig mit dem warmen Wasser seine braune Brust bespülen. Während sie dies tut, sieht die Frau gleichgültig auf uns. Dann nimmt sie den Säugling, hüllt ihn in ein Tuch und bringt ihn der Mutter, die dem jungen unschuldigen Vermehrer des Elends ihre welken Brüste reicht. Dabei blickt sie auf uns, gleichgültig, abgestumpft, regungslos. Dann sinkt sie wieder auf ihr Lager von getrocknetem Moos zurück.

*

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Die Wohnung als Ziegenstall. Mich fesselt schon wieder ein neues Detail dieser Behausung, die 6 Meter im Quadrat und eine Höhe von 2 œ Metern hat. Vor mir auf dem Fußboden liegt ein Büschel Heu, und von diesem zehren zwei junge Ziegen, die an einem Tischfuß angebunden sind. Unter dem Tische liegt ein Hund, den unser Kommen auch nicht aus der Fassung gebracht hatte. Wir wenden uns nach der Ecke rechts, wo an dem Balkentisch drei Männer sitzen. Der eine ist der „Hausherr“. Warum er die Ziegen und den Hund im Zimmer lasse, fragen wir ihn, da die Luft durch den Lampengeruch und durch die Ausdünstung so vieler Menschen – ich hatte inzwischen fünf Erwachsene und sechs Kinder gezählt – namentlich aber durch die Ausdünstung der Wöchnerin und durch das Trocknen der Windeln und Binden ohnehin schon verpestet sei? Seine Antwort ist klar. „ Im Stall können wir die Zickl nicht lassen, weil wir die Milch der Ziege brauchen und die Zickl uns Alles wegsaufen würden. Im Freien ist es zu kalt und zu naß für die jungen Tiere – bleibt also das Zimmer. Einen anderen warmen Raum haben wir nicht.“ Fünf Erwachsene und sechs Kinder haben somit einen Luftraum von 90 Kubikmeter, und davon nehmen noch drei Tiere ihre Luft zum Atmen. Wären sie auch nicht im Zimmer so würde doch nur ein Luftraum von 8.2 Kubikmeter auf die Person entfallen – in einer Wohn-und Arbeitsstube, die Millionen giftiger Krankheitserreger birgt.

Ich zähle sechs quadratmetergroße Fenster. Warum lüften Sie nicht? „Das erlaubt unsere Arbeit nicht. Wir brauchen eine ruhige Stichflamme, wenn wir die Glasstengel erhitzen wollen, daß man sie drücken und ziehen kann.“ Wir sehen der Arbeit zu, um die Antwort recht zu verstehen.

*

Die Arbeit des Lampendrückers. Der Lampendrücker sitzt an einem Balkentisch, so genannt, weil unter der Tischplatte ein großer Blasebalk angebracht ist. Mit den Füßen tritt der Arbeitende den Balken. Über die Tischplatte ist ein spitz zulaufendes Rohr gebogen, vor dessen Spitze eine faustgroße Öllampe steht. Vor dieser liegt ein hufeisenförmiger Ziegel, dessen Ränder eingekerbt sind. In tiefe Kerbungen sind die Glastengel zum Anwärmen aufgelegt. Der Lampendrücker hat immer drei, vier Stengel im Feuer, die er von der hintersten Kerbung des Ziegels immer weiter nach vorne, näher der Flamme zu, auflegt, damit sie immer weicher werden, bis der Drücker schließlich den Stengel in die direkte Flamme hält. Im selben Momente tritt er auf den Balken und durch das Rohr zischt die gepreßte Luft in starkem Strahl auf das Ölflämmchen, das nun zur stark hitzenden Stichflamme

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wird. Soll nicht Material verschwendet werden, so muß die Stichflamme ruhig sein. Würde sie flackern, so würde das Glas nicht weich werden, und das Öl wäre umsonst verbrannt. Jetzt hält der Drücker die Stengelspitze in die Stichflamme. Er dreht den Stengel in der Hand, um gleichmäßige Schmelzweichheit der schon rotglühenden Stengelspitze zu erzielen. Den Stengel hält er in seiner Linken. Die rechte Hand hat er schon an dem Hebel der Formzange, mit der er nun die kleinen schwarzen Steinchen drückt. Bei jedem Drücken fährt mit Hilfe einer mechanischen Vorrichtung eine Nadel durch das Steinchen. Dadurch wird die Durchlochung der Steinchen bewirkt. Bei hartem Glas drückt er etwa 30 Steinchen aus einem Klautsch. Die Steinchen bleiben zunächst durch die „ Brocke“, das Bruchglas, an den Rändern wie Ketten verbunden. Der Glasdrücker läßt die Ketten entweder durch einen Kanal, der durch die Tischplatte in einen unten stehenden Eisentopf führt, fallen, oder aber er hat die zeitersparende Vorrichtung nicht..., dann muß er einen Handgriff mehr machen und die Steinchenkette an einem Eisentopf abstreifen, der in der Mitte des Tisches steht. Nun, da wir den Arbeitsprozeß kennen gelernt haben, begreifen wir auch, warum der Lampenarbeiter seinen Arbeits-, Wohn-, Speise- und Schlafraum, den Stall seiner Ziegen und die Entbindungsstätte seiner Frau nicht lüften darf. Er könnte einfach nicht arbeiten und er könnte nicht die paar Groschen verdienen, die er zur Bestreitung seiner geringen Lebensbedürfnisse braucht, wenn er diese fürchterliche Atmosphäre nicht mit in in den Kauf nehmen würde.

*

Der Verdienst bei seiner Ware. Der Millionär August Juppe in Labau, man sagt ihm wenigstens allgemein Millionenbesitz nach, braucht nur seine Ware. Für diesen arbeitet der Vorsteher des eben geschilderten Haushaltes, sein Bruder und der dritte Arbeiter, der sich noch nicht zu einem eigenen Arbeitszeug aufschwingen konnte und sich aus eigener Kraft, wie wir später sehen werden, nie aufschwingen wird. Um einen Maßstab für den Lohn irgend eines Massenartikels zu gewinnen, braucht man sich nur eine Vorfrage zu stellen: Welches ist die kleinste Einheit bei der Lohnberechnung? Je mehr einzelne Stücke die Einheit bilden, desto schäbiger – so kann man in der Regel schließen – ist die Entlohnung, desto größer die Ausbeutung. Die Lohneinheit in der Besatzsteinindustrie ist ein Bund. Ein Bund „Flüssel“, wie die Besatzsteinchen in der Glasmacherbranche heißen, enthält 100 Dutzend, also 1200 Stück einzelner durchlochter Steinchen, die gedrückt, von der Brocke befreit und auf Wollfäden angereiht werden müssen. Herr Juppe zahlt unserem Lampdendrücker für einen Bund – sechs Kreuzer nicht etwa als Lohn, sondern als Preis, denn wie wir

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schon gehört haben, muß der Lampendrücker das Rohmaterial und die Betriebsmittel, also Glas, Öl, Baumwolle und Nadeln zum Anreihen, selbst beistellen.

Wir rechnen mit dem Lampendrücker sein regelmäßiges Wochenbeispiel durch. Bei 90stündiger Wochenarbeit ist er im Stande, 120 Bund, das sind 12.000 Dutzend oder 144.000 Stück, zu erzeugen. Dafür erzielt er bei seiner Ware einen Preis von 7 fl. 20 kr.

Hören wir, wie viel sein eigentlicher Lohn beträgt:
Zu 120 Bund braucht er zunächst 10 Kilo Glasstengel, 1 Kilo à20 kr. fl. 2.-
Bei 15 stündiger Arbeitszeit braucht er um 20 kr. Öl; für jeden Tag also fl. 1.20
Für das Anfädeln zahlt er für das Tausend (1000 Dutzend!) 11 kr.; für 12.000 Dutzend also fl. 1.32
Die Baumwolle und Nadeln, das Zubehör für das Anfädeln, kosten im Durschnitt fl. -.20
 
Wir finden also Auslagen . . fl. 4.72
Der erzielte Preis ist . . fl. 7.20
es ergibt sich somit ein reiner Arbeitslohn von fl. 2.48

Dieser für 90stündige Arbeit. Bei seiner Arbeit hat der geübte Lampendrücker demnach einen Stundenlohn von 2.75 Kreuzern, wovon er noch dafür sorgen muß, daß seine Arbeitsmittel, der Balkentisch und was er sonst an Vorrichtungen für seine Arbeit benötigt, stets in Stand gehalten sind.

Auf die um diesen Lohn erzeugte Stückzahl umgerechnet, ergibt sich, daß der Mann für einen Kreuzer 1730 Glassteinchen drücken muß, das heißt, er muß 3460 Bewegungen mit der rechten (das Auf- und Niederdrücken der Zange) und 1730 Bewegungen mit der linken Hand machen, abgesehen davon, daß er eine unberechenbare Zahl von Bewegungen mit der linken Hand und mit einem der beiden Füße machen muß, bis er den Glasstengel schmelzweich hat. Kann er die bei mindestens 5200 Bewegungen verlorene Kraft mit dem einen Kreuzer Lohn wieder ersetzen und kann er mit demselben Kreuzer auch noch seine Frau und seine fünf Kinder ernähren? Wir werden später hören, mit welchen Stoffen der Lampendrücker seinen Magen füllt, und daraus ersehen, daß der Lampendrücker gar nie die Kraft ersetzen kann, die er auf seine mörderische Arbeit wendet. Er zehrt das bißchen Kapital seines Körpers rasch auf, und früh erlöst ihn der Tod von seinen Leiden, die nicht zum Geringsten auch darin bestehen, daß er den ganzen lieben Tag über der heißen Stichflamme sitzen muß. Er atmet direkt heiße, stinkende Luft ein.

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Die nächste Folge solcher Löhne ist, daß der Lampenarbeiter die Kinder zur Arbeit heranzieht. Tatsächlich kann man auch in jedem Hause die älteren Kinder, das sind alle Kinder über sieben oder acht Jahre, mit der Arbeit des Anreihens beschäftigt sehen. Nur dadurch nämlich, daß er den Anreihlohn erspart, ist es ihm möglich, seinen Kindern halbwegs genug Brot und Erdäpfel zu geben.

*

Der Lohn des „Gehilfen“. Gehilfe kann man eigentlich nicht sagen. Der junge Mensch, der als Dritter an dem Balkentisch sitzt, unterscheidet sich von dem Hausvater und dessen Bruder, dem der Tisch gehört, eigentlich nur dadurch, daß ihm dieses wichtigste Betriebsmittel zum „freien“ Arbeiter fehlt. Der Ertrag seiner Arbeit ist nicht geringer als der der Tischbesitzer. Auch ihm bleiben unter den gleichen Bedingungen etwa 2 fl. 50 kr. als Arbeitslohn. Davon wandern zwei Gulden in die Taschen der Hausfrau. Das ist das wöchentliche Kost-und Wohnungsgeld, und darin ist auch die Entschädigung für den Arbeitsplatz inbegriffen. Es bleiben ihm somit 50 kr. in der Woche. Wie verwendet er diese? 30 kr. verschlingt sein Sonntagsvergnügen: der Tanz im Wirtshaus, das Rauchen und ein Glas Bier – 20 kr. spare er für Kleidung, Wäsche und für alle seine sonstigen Bedürfnisse. Daß er sich unter solchen Umständen nie zu einem eigenen Arbeitszeug aufschwingen kann, ist klar. Nur eine Möglichkeit gibt es. Er kann den Lampentisch erheiraten – aber wie viel Elend, Not und Sorge in der jungen Gegenwart und in der nächsten oder doch nicht allzu fernen Zukunft muß er dafür mit in den Kauf nehmen?

*

Der Käufer der feinen Ware, Herr August Juppe in Labau, ist ein Deutschnationaler reinsten Wassers. Als solchen werden ihm gewiß auch die „zehn Gebote der Deutschen“ bekannt sein, die man bei vielen Unternehmern dieser Gegend öffentlich angeschlagen findet. Das siebente dieser Gebote lautet: „Nehmt immer und allezeit, soweit solche zu bekommen sind, nur deutsche Lehrlinge, deutsche Gehilfen und Arbeiter auf und bemüht euch ernstlich darum.“ Man sollte nun meinen, daß ein Mann, der ein erbitterter Gegner der internationalen Sozialdemokratie ist, ein solches Gebot seiner „Volksgenossen“ um so strammer befolgen sollte. Weit gefehlt. Auf Schritt und Tritt stößt man auf einer Wanderung durch die tschechischen Dörfer auf den Namen Juppe, und zwar immer in Verbindung mit wenig erbaulichen Geschichten. Juppe ist sogar ein Freund der tschechischen Arbeiter, freilich nur dann und so lange, so lange sie billiger arbeiten wie die Deutschen. Er ist ihr Freund, wenn sie die Preise drücken, besser gesagt, wenn sie sich durch ihn die Preise drücken

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lassen. Da er nur feine Ware brauchen kann, ist es begreiflich, daß er bei der Übernahme der Arbeit sehr kritisch ist, und gar oft hat dann so ein Lampendrücker nicht nur umsonst gearbeitet, er bekommt nicht einmal den Wert des Rohmaterials herein. Irgend ein Lieferant nimmt ihm „gnadenhalber“ die Arbeit zu einem Preise ab, der nicht einmal die Auslagen für das Rohmaterial deckt. Es gibt auch Lieferanten, die in Produkten „zahlen“. So wurde mir ein Fall mitgeteilt, daß ein Lieferant einem Lampendrücker für Flüssel, die ihm zurückgeblieben waren und die er nun um jeden Preis losschlagen mußte, per Bund zwei Zeltel Saccharin gab. Saccharin wurde damals im Detail mit 1.5 kr. per Zeltchen verkauft. Der Lieferant „zahlte“ den Drücker mithin für eine Ware, deren Rohmaterial den Drücker auf 4.5 bis 5 kr. zu stehen kommt, mit einem Produkte im Werte von drei Kreuzern! Hat ein Arbeiter von Juppe für sein gutes Geld schlechtes Glas bekommen, auch das kommt vor, dann muß der Arbeiter, will er nicht größere Gefahr laufen, einen Vormittag, oft auch, je nach der Entfernung seines Wohnortes von Labau, wo er das Glas kauft, mehr Zeit opfern und die Stengel umtauschen gehen. Dasselbe ist der Fall, wenn Juppe dem Arbeiter eine schlechte Form gibt. Auch da muß die Kosten des Fehlers der arme Lampenarbeiter zahlen. Der Millionär verpflichtet den Arbeiter übrigens auch öfters, ihm Muster zu drücken. In dem Falle muß er die Arbeit ganz umsonst leisten, wofür er allerdings die verlockende Aussicht hat, später wenn Bestellungen einlaufen, die neue Arbeit zu bekommen, falls natürlich nicht ein Anderer sich noch mehr im Preise drücken läßt als er selbst. Die Muster bedingen die Konkurrenzfähigkeit des Jupp’schen Handels – dennoch trägt nicht der deutsche Millionär hierfür die Kosten, sondern er lastet sie dem hungernden, dem widerstandslosen tschechischen Arbeiter auf. Ich finde einen solchen Vorgang unmoralisch.

Der Drücker, dem Juppe die Flüssel abkauft, ist verpflichtet, bei ihm das Glas zu kaufen. Damit sichert sich Juppe den kaufmännischen Gewinn im Voraus. Dieser allein ist so hoch als der Lohn, den der Arbeiter für seine harte Arbeit bekommt. Diesen Kaufmannsgewinn hält Juppe fest. Einmal versuchte ein Arbeiter, sich von dem Kaufmann Juppe zu emanzipieren, und erklärte, er wolle das Glas wo anders kaufen, wo er die gleiche Qualität billiger bekomme – sofort schob der Kaufmann Juppe den Arbeitgeber Juppe vor, und dieser erklärte dem Arbeitnehmer: „Wenn das so ist, dann brauche ich Ihre Arbeit auch nicht mehr. Bringen Sie mir die Form zurück.“ Was blieb dem „freien“ Arbeiter Anderes übrig, als unterzuducken und fast noch demütig zu bitten:

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Ich bitt’, Herr Kaufmann Juppe, nehmen Sie weiter an mir ungebührlichen Profit, damit der Arbeitgeber Juppe aus mir auch weiter ungebührlichen Profit ziehen kann.

Juppe hatte sich auch einmal offiziell über die Not unter den Lampendrückern zu äußern. Sein Votum lautete: „Es ist keine Not unter den Arbeitern. Ich kenne Arbeiter die acht Gulden verdienen.“ Also sprach der Millionär Juppe, der In Labau eine herrliche Villa bewohnt, der also weiß, was es heißt, keinerlei Not zu leiden. Oder sieht er nach berühmtem Muster in den Angehörigen der „minderwertigen“ Nation überhaupt keine Menschen, sondern nur Arbeitstiere, deren Kraft man willkürlich ausbeuten kann? Fast scheint es so, leistete sich doch dieser seltene Menschenfreund einmal, als die Arbeiter im Sommer über furchtbare Hitze in den ungelüfteten Stuben klagten, die Äußerung: „Wenn es ihnen in der Stube zu warm ist, sollen sie in den Stall oder Keller drücken gehen!“ Nach dieser notwendigen Charakteristik eines typischen nationalen Unternehmers wollen wir wieder zu den Sklaven in den tschechischen Dörfern zurückkehren.

*

Die zweite Frau. In einer der nächsten Hütten treffen wir einen jungen Mann an der Arbeit. Er drückt 1 Œ linige Flüssel und erhält dafür 5 œ bis 5 Ÿ kr. per Bund. Er arbeitet 17 bis 18 Stunden täglich, sein Wochenverdienst beträgt 2 fl. 50 kr. Das Gespräch kommt auf seine Familie. Er ist zum zweitenmal verheiratet. Wir fragen ihn, woher er so viel Lebensmut genommen? – „Das bleibt sich gleich“, antwortet er, „im Gegenteil, es ist noch besser, weil das Anreihgeld zu Hause bleibt.“ So erhöht sich die Wocheneinnahme der beiden Leute auf 3 fl. 50 kr. Bei diesem Beispiel wurde mir nämlich der Preis für das Anreihen mit einem Gulden angegeben. Die Frage, warum er als junger Mann sich nicht einem anderen besseren Erwerbe zuwendet, beantwortet er achselzuckend: „Ich bin auf keine andere Arbeit gewöhnt. Darum kann ich nicht auswandern. Einmal hab’ ich 14 Tage lang Landarbeit versucht. Dann habe ich eine Lungenentzündung bekommen. Wir Lampendrücker haben nicht mehr die Kraft für eine andere Arbeit...“

*

Arbeitsstätten. Der Arbeitsraum dieses Lampenarbeiters, den er mit zwei Leidensgenossen teilt, ist von dem Wohnraum getrennt. Diese Arbeitsstätte ist eine der besten, die ich angetroffen habe. Sie hat 42 Kubikmeter Luftraum und ist 4 Meter hoch. Die Forderungen der Hygiene – mindestens 15 Kubikmeter Luftraum für einen Arbeiter und Ersatz der Luft

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1 bis 1.5 mal in der Stunde durch gute Ventilation – sind natürlich auch hier nicht erfüllt – man wird aber so bescheiden auf einer Wanderung durch solche Elendsstätten, daß man schon 14 Kubikmeter Luftraum für den einzelnen Arbeiter und Trennung der Arbeitsstätte vom Wohnraum beinahe mit Genugtuung begrüßt. Daß von Ventilation natürlich auch hier keine Rede ist, liegt in der Natur dieser Art, einen Artikel herstellen zu lassen. Das einzige Fenster, das den Raum übrigens genügend erhellt, darf nie geöffnet werden.

Auf getrennte Arbeitsstätten stieß ich in den Dörfern noch zweimal. Einmal war es eine Bretterhütte gegenüber dem Hause, in der vier junge Männer arbeiteten, ein zweitesmal war es ein Stall, in dem drei Männer und eine Frau arbeiteten. Diese hatten viel unter der Kälte des Steinbodens zu leiden. Namentlich die Arbeiterin klagte. „ Es ist besser im Kerker wie jetzt da. Wenn es wenigstens noch Sprengerei gäbe wie früher. Da war es besser!“ Sie hat tiefliegende schwarze Augen, vom Nachtwachen umrändert. Wenn sie spricht, werden ihre zerfressenen Zähne sichtbar. Früher war sie in Tannwald bei der Weberei. „ Das ist es geradeso wie da!“ Sie ist völlig abgestumpft. Bei 13stündiger effektiver täglicher Arbeitszeit verdient sie 20 kr. Davon muß sie sich und ihre beiden Kinder ernähren. Diese sind noch klein. Sie rutschen halbnackt auf dem Steinboden des Stalles herum. Wo ist der Vater? – „Beim Militär!“ erzählt sie. „Er mußte auf drei Jahre einrücken. Nun ist er das zweite Jahr dabei. Zuerst war er ein Jahr in Josefstadt und nun ist er in Dalmatien.“ Der Staat braucht Soldaten – und er fragt nicht, ob die Kinder einen Vater brauchen. Die wenigen Burschen, die aus dieser Gegend tauglich befunden werden, sind alle Väter; sie werden eben auch in erster Linie vor allen anderen Burschen von den Mädchen für tauglich befunden. Wo so viele sieche Gestalten hinschleichen, ist dieses Zusammentreffen nur zu begreiflich. Gleich im Nebenhaus stoßen wir wieder auf die Geliebte eines Vaterlandsverteidigers, der sein Weib und seine Kinder nicht gegen Hunger, Not und Elend verteidigen darf...

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„Unabhängige“ Arbeiter. In der vorerwähnten Holzhütte arbeitet eine Compagnie von vier selbständigen Arbeitern. Sie haben die Zwischenhand des Lieferanten abgestreift und liefern direkt nach Gablonz zum Exporteur. Ihre Lage ist darum nicht besser. Zwei Brüder, deren Schwager und ein fremder Arbeiter sind die Glieder dieser Arbeitsgesellschaft, die außer dem Rohmaterial und den bisher bekannten Betriebsmitteln sich auch noch die Druckformen selbst anschaffen muß. Die Beistellung der

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Druckformen ist sonst Sache der Lieferanten. Eine Form sammt Zange kostet 3 fl. 20 kr. Eine neue Formkappe 1 fl. 50 kr. Die Zangen bleiben, aber die Kappen, die eigentlichen Formen, müssen von Zeit zu Zeit, wenn andere Muster begehrt werden oder wenn die Kappen schon zu sehr abgenützt sind, ausgewechselt werden. Bei dem geringen Umfang ihres Betriebes finden die vier Arbeiter im Jahr mit 28 neuen Formkappen ihr Auslangen. Das entspricht einer Anschaffungssumme von 42 Gulden. Es entfällt somit auf jeden Arbeiter außer den übrigen Auslagen noch eine wöchentliche Werkzeugquote von 20 kr. Die Preise, die sie für die einzelnen Sorten erzielen, unterscheiden sich wenig. 6 Œ kr. per Bund ist der Mindestpreis, 7 kr. der höchste. Konkurrenzfähig sind sie nicht, und so werden sie von den Gablonzer Exporteuren im Preis gedrückt, wie es nur geht. Mit Œ und 3/10 Kreuzern wird gehandelt. Das Glas kaufen sie bei Riedl in Reinowitz. Es kommt sie daher etwas billiger als vom Lieferanten, der am Glasein- und Verkauf verdient, und zwar mehr verdient als an der fertiggestellten Ware. Der Profit am Rohmaterial ist der größte Gewinn des Lieferanten schon deshalb, weil der beim Weiterverkauf der Glasstengel einem widerstandslosen Proletarier, beim Weiterverkauf der fertigen Ware aber dem wirtschaftlich stärkeren Exporteur gegenübersteht. Dieser drückt dank der Macht seines Geldsackes, der Andere muß sich drücken lassen dank seiner wirtschaftlichen Ohnmacht.

Ein Durchschnittsbeispiel bei einem Preis von 6 œ kr. per Bund wird uns belehren, wie sich die Wochenrechung dieser „unabhängigen“ Arbeiter stellt. Der einzelne Drücker erzeugt in diesem Falle bei sechzehnstündiger täglicher Arbeit 100 Bund in der Woche.

Er hat also eine Einnahme von   fl. 6.50
Dieser stehen Ausgaben gegenüber, und zwar:
Glas (10 Kilo à 18 œ kr.) fl. 1.85  
Anreihen (10 kr. per 1000 Dutzend) fl. 1.00  
Wolle und Nadeln fl. -.15  
Öl fl. 1.30  
Werkzeugquote fl. -.20 fl. 4.50
 
Es verbleib somit ein Lohn von   fl. 2.-

Dieser für 6 mal 16stündige Arbeit, also für 96 Stunden. Der „unabhängige“ Lampendrücker muß also seine Arbeitskraft um den Stundenpreis von zwei Kreuzern verkaufen. Drei von ihnen, die zwei Brüder und deren Schwager, haben die Wohnung in dem anstoßenden Haus, das dem Vater der Brüder gehört, umsonst. Jeder von ihnen, auch der vierte Arbeiter, zahlt 1 fl. 70 kr.

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wöchentlich Kostgeld, wofür die beiden Brüder auch noch die Kleidung bekommen. Der Vierte soll auch noch 20 kr. Zins in der Woche zahlen. Aber der Hausherr selbst sagte mir: „Jetzt, bei diesem Verdienst, ist es ihm unmöglich, das zu zahlen.“ Er zahlt also auch keinen Zins. Hätte der Hausherr nicht 1 Joch Grundeigentum und 2 Joch im Pacht, worauf er alles baut, was die Familie für den Haushalt braucht, so müßten die vier jungen Arbeiter, das Weib und die zwei Kinder des einen und die alten Leute verhungern. Nur dadurch und durch das Zusammenwirken aller Kräfte ist es möglich, diesen Haushalt aufrecht zu erhalten.

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Anreiherinnen. Die Arbeit des Anreihens oder Anfädelns der kleinen durchlochten Steinchen mannigfaltigster Form ist fast ausschließlich Frauen- und Kinderarbeit. Den zweiten Tisch in jeder Lampendrückerstube nehmen die Anreiherinnen ein. Längs der Wände ziehen sich gewöhnlich Bänke, die zur Nachtzeit wohl auch als Liegerstatt für die armen Teufel dienen, die 15 bis 17 Stunden gearbeitet haben. Auf diesen Bänken – vor sich den Tisch – sitzen die Anreiherinnen. Entweder auf dem Tisch aufgehäuft oder vor sich im Schoß haben sie einen Haufen von Posamenterieperlen. In der rechten Hand, eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigefinger, halten sie fächerförmig ausgebreitet zehn, zwölf etwa 15 Zentimeter lange dünne Nadeln, mit denen sie so lange in den Haufen schwarzer Glasperlen stechen, bis sich an den Nadeln genügend Perlen angereiht haben. Dann streifen sie die Steinchen auf die in den Ösen hängenden Baumwollfäden. Dieser mechanischen Tätigkeit muß die Anfädlerin 15, 16, 17, ja selbst 18 Stunden im Tage obliegen, wenn sie nur einige Kreuzer verdienen will. Der höchste Preis, der für das Anfädeln von tausend Dutzend – das ist in diesem Falle die Einheit – gezahlt wird, ist nach meinen Erhebungen 11 kr. Der gewöhnliche Preis ist 10 kr. Ich habe aber auch Arbeiterinnen angetroffen, die 4 œ kr. für das Anreihen von 1000 Dutzend bekommen. Das ist allerdings ein Ausnahmsfall wahnwitzigster Ausbeutung.

Wie viele 1000 Dutzend können flinke, nimmermüde Anfädlerinnen nun fertigbringen? Das richtet sich nach dem Material. Sind die Löcher der Steinchen verstopft, dann muß die Anfädlerin froh sein, wenn sie am Tag – darunter sind immer 15 bis 18 Stunden zu verstehen – zehn Bund, also 1000 Dutzend fertigbringt. Ist die Ware gut, dann kann sie bis zu 25 und selbst 30 Bund im Tag anfädeln. Den häufigsten Lohn von 10 kr. angenommen, kann sie also 10 bis 30 kr. im Tag verdienen. Die Anfädlerinnen des Lieferanten Tomesch aus Labau arbeit