Zwischen Iser und Neisse (F)

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Die Perlenindustrie

Wir wollen nun von der Perle sprechen. Die Schlußworte des letzten Kapitels können wir gleich hier an die Spitze setzen. Dieselbe Parallele wird sich auch hier uns aufdrängen: Lauter Erzeugnisse, bestimmt, Menschen zu erfreuen, und durchwegs Erzeuger, die die Freude nur vom Hörensagen kennen. Das gilt nicht nur von der geblasenen Hohlperle – es gilt fast in gleichem Maße von der Sprengperle, auch Schmelzperle, die als Einzelstück mit dem freien Auge oft kaum sichtbar ist, in Massen angereiht aber doch den prächtigen Eindruck goldener oder silberner Schnüre hervorbringt. Auf unserer Wanderung durch die tschechischen Lampendrückerdörfer und durch die Druckhütten des deutschen Grenzgebietes gegen den Semiler Bezirk zu sind wir wiederholt schon Perlen begegnet: den Posamentrieperlen und den massiven Druckperlen. Wer „im Gebirge“ indeß von Perlen spricht, der meint die geblasene Hohlperle, die sich seit Anfang der Sechzigerjahre zu einem hervorragenden Industrieartikel des Glasmacherlandes aufgeschwungen hat. Außer dieser fällt in den Kreis unserer Besprechung noch die Sprengperle, deren Herstellung durch die Erfindung der Perlensprengmaschine revolutioniert wurde, eine Revolution, die heute das Elend der tschechischen Lampendrücker im Gefolge hat, das wir im zweiten Abschnitt kennen gelernt haben. Bei Besprechung der Hohlperle wollen wir auch einen Blick in die Werkstätte des Herrn Dr. Iwan Weißkopf in Morchenstern werfen, der als Einziger im Gebirge die Pariser Feingoldperle herstellt, die, tausendfältig in Form, Farbe, Größe und Dekoration, in gleicher Weise die weltfremden Wilden im Innern Afrikas und die raffinierten Luxushyänen der Pariser Boulevards gefangen nimmt.

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Die Hohlperle

Die in die Form geblasene Perle und die Freihandperle hat sich zu entwickeln begonnen, als Ende der Fünfziger- , Anfang der Sechzigerjahre der praktische Arzt Weißkopf die Versilberung auf kaltem Wege in die Gablonzer Gegend brachte und zum Einzug

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für Hohlperlen verwendbar machte. Seit jener Zeit ist die in die Form geblasene Hohlperle ein Welthandelsartikel, dessen Erzeugung allerdings die denkbar primitivste war. Es wurde Stück für Stück entweder frei oder in eine Form geblasen. Es wurde damals der für die heutigen Verhältnisse unerhört hohe Preis von einem Gulden per Bund (1200 Stück) erzielt.

Ende der Siebzigerjahre trat in der Produktion ein jäher Umschwung ein. Ein einfacher Perlenbläser, der heute noch leben soll, hatte eine Form ersonnen, die es ihm ermöglichte, mehrere Perlen auf einmal in die Formen zu blasen. Die Form enthielt eine ganze Reihe von Perlen. Seine Erfindung blieb nicht lange Geheimnis, sie brachte ihm und seinen Genossen wenig Segen, denn sie wurde in der Hand der Exporteure das Instrument, mit dem sie immer mehr und mehr die Preise drückten. Massenproduktion und Lohndrückerei sind ja Zwillingsschwestern. Nachdem man dem Erfinder den Vorteil abgesehen hatte, wurde er nicht nur in dem Maße ausgenützt, wie es der Erfinder tat, sondern die Sucht, in derselben Zeit immer mehr und mehr zu produzieren, trieb dazu, daß immer längere und längere Forman gemacht wurden. – Die Preise wurden billiger, die Qualität nicht besser, die Löhne sanken, die Arbeitszeit stieg. Trotzdem wurden noch Ende der Achtzigerjahre 40 und 45 Kreuzer per Bund erzielt. Arbeiter und Exporteure, sowie die Zwischenglieder der Beiden, die Lieferanten, hatten noch immer ein im Vergleich zu den späteren Jahren außerordentlich günstiges Auskommen.

Man hätte glauben sollen, daß es immer so bleiben werde. Die Hohlperle hatte weder die Konkurrenz der Großindustrie, noch eine auswärtige Konkurrenz zu bestehen oder auch nur zu befürchten. Aber schon war der Stein im Rollen. Die industriemordende Konkurrenz der Gablonzer Exporteure wurde noch durch Eigentümlichkeiten der Absatzbedingungen unterstützt. Die Holhperle unterliegt durchaus nicht der Mode, aber sie ist ein Luxusartikel, und darum drückt sich im Absatz jedes Unglück, das die Absatzgebiete betrifft, aus. Seuchen und Mißwachs, große Elementarereignisse in den meist überseeischen Absatzgebieten, Kriege, alles Unglück der Welt bekamen und bekommen die Perlenbläser im Isergebirge auch zu spüren. Der verminderte Absatz, der sich zeitweilig geltend machte, oder den die Exporteure wenigstens als Mittel zum Zweck vorschützten, und der Egoismus der Exporteure, die ihren alten Profit herausschlagen wollten und sei es auch auf Kosten der Industrie, brachten es dahin, daß die Preise der Perle 1890 so weit gesunken waren, daß sowohl Arbeiter, wie Lieferant und Exporteur ihre Rechnung nicht mehr zu finden glaubten. Dies kam in Form eines Streiks der Perlenbläser und in der darauf folgenden Konvention zum Ausdruck.

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Die traurigen Verhältnisse, die zum Streik geführt hatten, beschäftigten viel die Öffentlichkeit, und um die Industrie zu retten, unterstützten auch vorgeschrittene Unternehmer, wie Dr. Weißkopf oder solche, die als Erzeuger des Halbfabrikates ein Interesse an der Erhaltung der Industrie hatten, wie der Glaskönig Riedl, den Streik materiell. Die Konvention war geschlossen. Der Preis für die O-Perle wurde mit 28 Kreuzern per 100 Dutzend festgesetzt. Man glaubte eine rettende Tat vollbracht zu haben. Aber schon die nächste Zukunft bewies, daß die wirkliche Macht der Exporteure stärker war als die papierene Konvention, die sie mit zwei wirtschaftlich Schwächeren, den Arbeitern und den Lieferanten, abgeschlossen hatten. Hier sei eingefügt, daß die Lieferanten keineswegs ein durchaus unproduktives Zwischenglied sind. Sie besorgen das Fertigmachen der Perle und haben darum auch Anteil, wenn auch einen bescheidenen, an der Produktion. Die Preise der Konvention waren bald durchbrochen, und wieder begann das alte verderbliche Spiel des Niederkonkurrierens der Industrie. 1894/95 kam es zu einem neuerlichen Streik und zu einer neuen Konvention, in der der Preis – nicht Lohn, denn die Arbeiter müssen auch das ganze Material dazugeben – der O-Perle schon mit nur 22 Kreuzern für 100 Dutzend festgesetzt war.

Von da an begann infolge verminderten Bedarfs ein Abbröcklungsprozeß, wie er noch nicht da war. Jetzt erst zeigten die Exporteure so recht, was sie als Industriemörder zu leisten im Stande waren. In den ersten Monaten des Jahres 1898 drückten sie die Preise der O-Perle auf 13 und 14 kr. herab. Die Arbeiter verdienten nun bei 14- und 15stündiger Arbeitszeit, das heißt bei 80 bis 90 Stunden Arbeit in der Woche, nicht mehr so viel, als sie für die bescheidenste Notdurft brauchten, der Lieferant trug tatsächlich sein Geld nach Gabloz, und nur der wirtschaftlich Starke, der Exporteur, verdiente weiter seine 20 bis 25 Perzent. Jeder, der auch nur einen oberflächlichen Einblick in die Industrie hatte, mußte sich sagen, daß dieser Preissturz über kurz oder lang zum Aussterben dieser Industrie, die noch von wenigen Jahren 4000 bis 5000 Menschen genügend Arbeit und halbwegs Brot gegeben hatte, führen mußte. Eine Industrie, die dem Arbeiter nicht mehr das Notwendigste zum Leben gibt und den Artikel so verschlechtert, daß der letzte Hindu erklärt, solchen Schund nicht mehr annehmen zu wollen, eine solche Industrie muß ja zugrunde gehen.

Wieder beschäftigte sich die Öffentlichkeit mit der Perlenindustrie. Der Notstand der Arbeiter war ein so furchtbarer, daß Hungertyphus und Seuchen zu befürchten waren. Die Zeitungen,

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und nicht nur die Arbeiterpresse, brachten Berichte über den Notstand im Isergebirge. Die Gendarmerie, das Institut für österreichische Sozialpolitik, stand in Bereitschaft. Die Reichenberger Handelskammer berief eine Enquête ein, auf der die beteiligten Faktoren, Arbeiter, Lieferanten und Exporteure gleichmäßig vertreten waren und wo Dinge aufgedeckt und gesagt wurden, wie sie wohl kaum mehr, sowohl den Exporteuren, als den Lieferanten, je wieder gesagt werden dürften. Wir wollen hier bei den Schäden, deren Nachwirkungen bis zum heutigen Tage wir später noch kennen lernen werden, nicht verweilen, wir wollen nicht verspätete Anklagen erheben, wir wollen nur feststellen, daß von allen Seiten zugegeben wurde, daß es so nicht weitergehen kann. Aber wie in allen Zweigen der Gablonzer Glasindustrie, so herrschte auch in diesem Zweige die vorgefaßte Meinung, daß Abhilfe unmöglich sei. Niemand wußte tatsächlich einen Vorschlag zu machen, der Abhilfe gebracht hätte. Schließlich wurde der Vorschlag zur Gründung einer Produktivgenossenschaft gemacht. Dr. Iwan Weißkopf, der jetzige geistige Leiter der Produktivgenossenschaft, war es, der diesen Vorschlag machte. Die Arbeiter stimmten zu und versprachen die Unterstützung der Genossenschaft durch ihre Organisation. In rasch aufeinanderfolgenden Versammlungen wurden nun das Statut und die Geschäftsordnung beraten und festgestetzt. Ende Oktober 1898 fand die Generalversammlung statt, und schon am 1. November wurde – etwas vorzeitig – zur Eröffnung des Einkaufhauses in Gablonz geschritten.

Die Produktivgenossenschaft der Perlenerzeuger.

Das Grundprinzip der Genossenschaft sehen die Gründer darin, einmal den Versuch zu wagen, nicht das Kapital, sondern die Arbeitskraft als Haupteinlage zu betrachten und ebenso am Reingewinne nicht das Kapital, sondern die Arbeitskraft zu beteiligen. Der § 55 des Statuts bringt dies zum Ausdruck. Darin ist bestimmt, daß der eventuelle Reingewinn nach Deckung der Spesen und einer höchstens 5perzentigen Verzinsung der mit 50 fl. bestimmten Anteilscheine [Die Anteilscheine können in Wochenraten à 10 kr. eingezahlt werden.] zu neun Zehnteln als Gewinnbeteiligung nach geleisteter Arbeit Verwendung finden soll, während ein Zehntel als Gewinnbeteiligung der Beamten des Verkaufshauses und des Aufsichtsrates bestimmt ist.

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In der Erzeugung und dem Vertrieb der Glashohlperle sind drei Faktoren beteiligt: Arbeiter, Lieferanten und Exporteure. Welche Stellung nehmen sie zur Genossenschaft ein?

Der Arbeiter ist durchwegs Heimarbeiter, und bei der Eigenartigkeit des Betriebes dürfte es auch außerordentlich schwer halten – Kenner der Industrie erklären es sogar für ein Unmöglichkeit – aus der Heimarbeit Werkstätten zu machen. Der Arbeiter kauft das Halbfabrikat zur Herstellung der Hohlperle, die Glasstengel, in der Glashütte je nach seinen Aufträgen und stellt daraus den sogenannten Klautsch, das heißt die in die Form geblasene Perlenreihe, her. Nun tritt zweierlei ein. Entweder der Arbeiter oder der Lieferant stellt die Perle vollkommen fertig, das heißt, er zieht die kalte Silberlösung in den 10 bis 15 Zentimeter langen Klautsch ein, läßt die Perlen schneiden, anreihen, waschen, putzen und verpacken und in das Verkaufshaus abliefern. In einzelnen Orten stellt der Arbeiter die Perle bis zum Waschen fertig. In anderen Ortschaften bläst der Arbeiter nur die Perle und läßt alle übrige Arbeit dem Lieferanten. Diese Verschiedenheiten sollen später noch geregelt werden.

In der Perlenbranche, an der 1894 noch 4000 bis 5000 Menschen hingen, sind gegenwärtig 1100 Arbeiter beschäftigt, das sind erwachsene Personen, die bei der Perlenerzeugung direkt beschäftigt sind. Die Erhebungen während des Notstandes 1898/99 ergaben, daß außerdem noch etwa 300 Kinder und 200 erwachsene Personen mit dem Fertigmachen der Perlen beschäftigt sind.

Als zweiter Beteiligter erscheint, wie wir gesehen haben, der Lieferant oder Verleger, der die Ware fertigstellt und sie früher dem Exporteur, jetzt der Genossenschaft liefert. Die Genossenschaft kennt als Mitglieder nur die Erzeuger. Diese sind die Arbeiter und Lieferanten. Für die Aufnahme in die Genossenschaft muß der Lieferant, das frühere Zwischenglied von Arbeiter und Exporteure, gewisse Verpflichtungen eingehen. Arbeiter und Lieferant bilden nun im Gegensatz zu früher eine Gruppe. Auf der anderen Seite steht der dritte Beteiligte, der Exporteur. Die Genossenschaft ist die alleinige Vermittlerin. Dem Lieferanten ist der direkte Verkehr mit dem Exporteur untersagt, weil sonst wieder die Preisdrückerei beginnen würde. Ebenso ist es dem Arbeiter untersagt, direkt mit dem Verkaufshaus in Verbindung zu treten. Das Zwischenglied Lieferant zwischen Arbeiter und Genossenschaft mußte aufrecht erhalten werden, trotzdem es nach der Art der Organisation nicht unbedingt nötig gewesen wäre, weil die Genossenschaft sich nicht von Haus aus eine Unzahl Feinde schaffen durfte. Die

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Exporteure machten ja ohnehin nur gezwungen gute Miene zu dem für sie bösen Spiel. Dadurch, daß nun die Genossenschaft die Lieferanten zur Mitarbeit heranzog, zum Teil durch Gewinnung der bisherigen Arbeiter eines halsstarrigen Lieferanten diesen zwang, der Genossenschaft beizutreten und sich in ihre Organisation einzupassen, dadurch hat sie sich eine Unzahl von Feinden weniger gemacht. Die Lieferanten sind mit den Arbeitern vielfach verwandt und verschwägert, und es hätte der Genossenschaft wohl geschehen können, daß sie sich eine empfindliche Konkurrenz großgezogen hätte, wenn sie die Lieferanten nicht in das Gefüge ihrer Organisation geschoben hätte.

Die Organisation, die sich außerordentlich bewährt, ist folgende. Mitglieder sind Arbeiter und Lieferanten. Jedem Lieferanten wird nun eine bestimmte Anzahl Arbeiter zugeteilt. Die Aufträge nimmt das Gablonzer Einkaufshaus entgegen und verteilt sie je nach der Leistungsfähigkeit und Zahl der dem einzelnen Lieferanten zugeteilten Arbeiter an die Lieferanten. Sogar welche Artikel die einzelnen Arbeiter mit Vorliebe machen, wird im Laufe der Zeit berücksichtigt werden können, und es wird auch heute schon berücksichtigt, wo es bekannt ist. Dies liegt natürlich im Vorteil der Genossenschaft ebenso wie der Arbeiter. Diese können mit Liebe arbeiten, werden also mehr und besser produzieren, jene gewinnt durch den daraus entstehenden Vorteil. Der Exporteur hat nur mit dem Verkaufshaus zu tun. Er bestellt. Der Lieferant bekommt die Aufträge, verteilt sie an die Arbeiter und liefert sie zum festgesetzten Termin wieder an das Verkaufshaus. Der Lieferant ist der Genossenschaft für Quantität und Qualität, sowie für die Einhaltung der Lieferzeit verantwortlich.

Jeder Arbeiter hat das größte Interesse, nur beste Qualität zu erzeugen. Der Schleuderarbeit hat die Genossenschaft einen Riegel vorgeschoben, indem sie die gelieferte Ware in drei Qualitätsgruppen einteilt. Prima, Sekunda1 und Sekunda2. Für Prima wird der volle Preis gezahlt, bei , Sekunda1 wird ein 25perzentiger Abzug gemacht, und bei Sekunda2 wird der Preis nach Übereinkommen festgesetzt. Eine willkürliche Qualitätsbeurteilung ist ausgeschlossen. Was unter den einzelnen Qualitäten zu verstehen ist, ist nach einem Übereinkommen des Vorstandes, des Aufsichtsrates, der Arbeiter und der Lieferanten ein- für allemal festgesetzt. Bis Mitte 1899 war auch ein Streit daraus nicht entstanden. Wie gut diese Bestimmung war, mag daraus ersehen werden, daß unter den ersten 100.000 fl. gelieferter Ware nur 1200 fl. für Sekunda gezahlt wurden. Es wurden also 98.8 Perzent Prima- und nur 1.2 Perzent Sekundaware geliefert. Dieses Verhältnis muß ein außerordentlich günstiges genannt werden.

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Damit hielt aber die Genossenschaft bei ihrer Arbeit, die Industrie zu sanieren, nicht inne. Sie hatte längst als eine Hauptursache der Verschlechterung der Qualität die Verlängerung der Formen erkannt. Diesem Übel mußte also auch gesteuert werden. Sie setzte eine Maximallänge der Formen fest und verhinderte damit die Verschlechterung der Qualität, ebenso wie Überproduktion, deren verderbliche Folgen die Perlenbläser furchtbar an ihrem Leib hatten zu spüren bekommen. Es ist unter Strafe gestellt, wenn der Lieferant Perlen übernimmt, die auf längeren als den erlaubten Formen hergestellt sind.

Die Genossenschaft, der zur Gründung ein auf fünf Jahre unverzinsliches Leihkapital von 100.000 fl., die Herr Riedl vorstreckte, zur Verfügung stand, arbeitet bis jetzt ohne Nutzen. Sie ist vorläufig noch auf die 12.000 fl. Subvention der Regierung und auf dem Gewinn beim Einkauf der Rohstoffe (salzsaures Silber, Ätzkali, Papier, Spagat, Baumwolle) und beim Verkauf der Abfallprodukte, der sogenannten „Stutzl“, angewiesen. Die „Stutzl“ sind der gläserne Hals, der zwischen je zwei in die Form geblasenen Perlen entsteht. In der Zeit der wildesten Produktion wurden diese „Stutzl“ auch als „Perlen“ verkauft. Um einen Schacher mit diesem Abfallprodukt zu verhindern, sind die Lieferanten verpflichtet, es der Genossenschaft abzuliefern.

Wie kommt nun der Arbeiter auf seine Rechnung? Eine allgemeine Lohnaufteilung von vorneherein war nicht möglich, weil die Preissetzung ja von den Bedürfnissen des Marktes abhängig war. Es wurden aber im Allgemeinen die Preisnotierungen von 1895 als Grundlage der Verkaufs- und Einkaufspreise angenommen. Die O-Perle notiert heute wieder mit 22 kr. Die Bläser bekommt für die fertiggestellte Ware 20 kr., das ist im Arbeitslohn verglichen gegen Juni 1889, eine Erhöhung von 200 bis 400 Perzent. Juni 1889 mußte der Arbeiter die O-Perle um 13 bis 14 kr. liefern. Das Material und das Anfädeln der Perlen kostete ihm per Bund 11 bis 12 kr. Es blieben ihm also 2 bis 3 kr. Arbeitslohn per Bund, während ihm heute 8 bis 9 kr. Arbeitslohn erübrigen. Die ganze Erhöhung des Einkaufspreises der Perle kommt dem Arbeiter zugute. Nun muß die Genossenschaft daran gehen, sich auf eigene Füße zu stellen, und dies kann nur dadurch erreicht werden, daß sie eine weitere Regelung, Erhöhung der Preise vornimmt. Diese erstmalige Erhöhung der Preise wird ausschließlich die Fonds der Genossenschaft stärken; direkt werden weder die Arbeiter noch die Lieferanten daran Anteil haben. Bei dieser Erhöhung wird es nicht bleiben Die Gründer der Genossenschaft haben schon bei der Gründung allen

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betheiligten Faktoren, auch den Exporteuren, in Aussicht gestellt, daß das Endziel der Genossenschaft die Erreichung der Preise von 1890 sein wird, das heißt, daß die O-Perle einen Einkaufspreis von 28 kr. oder einen Arbeitspreis von 25 kr. erreicht. An der im Laufe der nächsten Jahre je nach der Konjunktur vorzunehmenden zweiten Preiserhöhung sollen den Löwenanteil die Arbeiter, einen geringen Anteil die Lieferanten direkt haben. Die Genossenschaft strebt für sich nach den mir von Herrn Dr. Iwan Weißkopf gewordenen Aufklärungen neuerliche Einnahmen aus Preiserhöhungen nicht mehr an. Die Exporteure wenden heute gegen die Preiserhöhungen nichts mehr ein. Sie sind der Ansicht, daß man jetzt eine Preiserhöhung wagen kann. Die Regierung hat neuerdings eine Subvention von 12.000 fl. zugesagt, und so hofft die Genossenschaft, schon im Jahre 1900 einen Reingewinn zu erzielen und verteilen zu können. Ein Gesuch, der Genossenschaft fünfjährige Steuerfreiheit zu gewähren, war im Mai 1899 noch in Schwebe.

Über die gegenwärtigen Wirkungen der Genossenschaft äußert sich Preußler in der „Gewerkschaft“ (Bd. 1, Nr. 10): „Was an sich schon den Bestand der Genossenschaft glänzend rechtfertigt, ist die Tatsache, daß sie seit ihrer Gründung an 1100 Arbeiter der Perlenindustrie rund 100.000 fl. mehr an Lohn ausgezahlt hat, als diese bei den früheren Arbeitslöhnen und der höheren Arbeitszeit erhalten hätten.“ So kann man denn ruhig die Genossenschaft als die einzig mögliche Rettung für die Perlenindustrie bezeichnen. Sie wäre nie Tatsache geworden, wenn nicht die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft mit Feuereifer bei der Sache gewesen wäre und geholfen hätte, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Die Vertrauensmänner der Perlenarbeiter rechtfertigen durch das Verständnis, das sie oft in schwierigen Situationen an den Tag legen, vollkommen das in sie gesetzte Vertrauen, und ich schmälere nicht das Verdienst der Übrigen, wenn ich ihre Leistungen besonders anerkenne.

Eine besonders delikate Frage bildet und wird in Zukunft bilden die Gehaltsfrage der Angestellten. An der Spitze des Verkaufshauses steht heute ein kaufmännisch gebildeter Mann als Direktor, der die Tätigkeit hat, die Bedürfnisse des Marktes zu übersehen. Ihm zur Seite stehen zwei Buchhalter, zwei Warenübernehmer, ein Lagerhalter, zwei Hausmeister und zwei Mädchen. Wer tüchtige Kräfte haben will, muß sie entsprechend zahlen. Es wäre der größte Fehler, in den die Genossenschaft verfallen könnte, wenn sie die Beamtengehalte herabdrücken würde. Gar manche Unternehmungen, die die organisierte Arbeiterschaft Österreichs gründeten, laborierten und laborieren noch daran, daß die Arbeiter, um Gehälter zu sparen, keine tüchtige, fachmännisch

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gebildete Kraft and die Spitze stellten, sondern einem Vorstand von Arbeitern zumuteten, daß er, natürlich nach Feierabend und ohne das Rüstzeug des Kaufmannes, Arbeit leistete, die nur ein Kaufmann leisten kann und er auch nur dann, wenn ihm kein Detail entgeht. Vorläufig ist die Produktivgenossenschaft der Perlenarbeiter noch von Kaufleuten geleitet, es wäre im Interesse des Fortbestehens und Gedeihens der Genossenschaft zu wünschen, wenn es immer so bliebe.

Bei den Perlenbläsern

In großen Zügen haben wir die Arbeit und die soziale Lage der Perlenbläser bereits kennen gelernt. Aber erst Detailmalerei kann uns ein annähernd richtiges Bild davon geben, wie tief die Lebenshaltung der Perlenbläser bereits gesunken war und wie vieler und ehrlicher Arbeit es noch bedarf, um sie wieder auf menschenwürdige Höhe zu bringen. Wir wollen also in einige Hütten treten und uns dort mit der Arbeit, ihren Bedingungen und der Lebenshaltung der Arbeitenden vertraut machen.

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Der Werdegang der Perle. Der erste Perlenbläser, bei dem wir Umschau halten, arbeitet mit der Blasemaschine. Wir sehen einen Balkentisch, wie wir ihn schon bei den Lampenarbeitern kennen gelernt haben, und daran die höchst einfache Maschine, die zur Rechten des Sitzes angebracht ist. Sie besteht aus einer Luftpumpe, die durch einen Tritt auf den Hebel des Blasbalges gefüllt wird. Von der Luftpumpe wird die Luft in einen Schlauch gepreßt, in dessen anderem Ende der Glasstengel steckt. Dieser ist an seinem freien Ende verschmolzen. Der Bläser tritt auf den Hebel, setzt durch eine Verbindungsschnur einen zweiten, an der Tischplatte angebrachten Hebel in Bewegung, der im selben Momente das Zuklappen der Perlenform bewirkt, indem die Luft in den erwärmten Glasstengel gepreßt wird. Diese beiden Bewegungen bei der Perlenerzeugung besorgt also der rechte Fuß des Perlenbläsers. Mit seinen Händen dirigiert er den Stengel, den er an einer Stichflamme gleichmäßig erwärmt. Ist der Klautsch richtig angewärmt, dann beginnt für den Arbeiter ein Moment der größten Aufmerksamkeit. Er muß das „Kläutschl“ ausziehen und auf die Form auflegen und in derselben Sekunde auch den Hebel der Maschine treten, damit die Luft eingeblasen und zugleich die Form geschlossen wird. Die größte Kunst des Bläsers besteht darin, daß er den Klautsch richtig, das ist gleichmäßig anwärmt. Zieht er den erwärmten Klautsch aus, so muß die Stärke des Glases gleichmäßig sein, denn die gleiche Stärke bedingt die gleiche Farbe, die bei Primaware unerläßlich ist. Unser Perlenbläser arbeitet auf zwei Formen: vier Null und

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fünf Null. Von der vier Nullperle hatte er früher bis zu 20, von der fünf Nullperle bis zu 30 Perlen in einer Form nebeneinander. Die Produktivgenossenschaft hat die Formen auf 16 und 20 Perlen verkürzt. Dadurch wird bewirkt, daß die Perle gleichmäßiger wird. Freilich kann der Arbeiter infolgedessen auch nicht mehr so viel produzieren, ein Umstand, der der Steigerung der Einnahmen vorläufig noch Eintrag tut. Der Arbeiter legt je nach der geschickten Handhabung des Stengels drei-, vier- bis fünfmal ein, ohne die Klautschreihe abzubrechen. Dann erst spitzt er den Stengel ab, das heißt, er verschmilzt nun auch das bisher offene Ende des Stengels, durch das die Luft gepreßt wurde.

Er erleichtert sich dadurch die Manipulation des Einziehens, die die nächste Entwicklungsstufe in dem Werdegang der Perle bedeutet. Man stelle sich vor: Aus dem früher walzenförmigen Glasstengel entstanden durch die Manipulation, die wir kennen gelernt haben, bei jedem Anwärmen und Einlegen 20 Perlen Nr. 5, die mit einander durch dünne Glashälse, die sogenannten „Stutzl“, verbunden sind. Legt er denselben Stengel, ohne den Klautsch abzuspritzen, fünfmal ein, so hat er in ununterbrochener Reihe 5X20, also 100 Perlen. Diese zieht er auf einmal mit der Silberlösung ein, die dann den Perlen aus braungelben Glas durch Metallisierung der Innenflächen das Aussehen von Goldperlen gibt. Das Einziehen wird immer erst gemacht, bis der Perlenbläser etwa 1000 Dutzend fertiggebracht hat. Die Flüssigkeit hat folgende Zusammensetzung: Auf 5 Liter Wasser kommen 5 Deka Salpetersaures Silber und ebensoviel Ätzkali. Dann muß die Lösung geschüttelt werden und hiebei so lange Salmiakgeist zugegossen werden, bis sie die Farbei von Milchkaffee hat. Zur Ablagerung der schweren Bestandteile muß die Lösung drei Tage Stehen bleiben und dann vorsichtig abgegossen werden. Wie der Bodensatz dazu kommt, ist die Perle grau, anstatt goldig. Wenn der Einzug schlecht ist, ist oft der ganze Wochenverdienst beim Teufel, denn nur die goldig schimmernde Perle findet Anwert. Kommt etwa eine Fliege hinein, so ist die Lösung schon unbrauchbar. Will der Perlenbläser also nicht großen Schaden haben, so muß er mit der Lösung sehr vorsichtig umgehen. Die Chemikalien kosten viel Geld. Das salpetersaure Silber wird z.B. nach dem Kurswert, gegenwärtig um 37 bis 38 kr. per Deka verkauft. Unser Perlenbläser verwendet auch zum Einziehen eine Pumpe. Die meisten Perlenbläser aber haben hiezu sowie zum Blasen der Perlen keine andere Pumpe als ihre Lunge. Sie ziehen die Lösung in die Klautschreihe ein, wie der Küfer mit dem Heber Wein aus dem Fasse nimmt. Wer gesunde Zähne hat, kann es leicht machen, nur muß er den Mund nach der Arbeit mit Salzwasser ausspülen. Wer nicht zehn Stunden

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im Tag einzieht, bei dem treten überhaupt keine Folgeerscheinungen auf. Es gibt aber einige Proletarier im Gebirge, die das Einziehen als Profession betreiben. Diese sind im Lauf der Jahre an allen der Luft ausgesetzten Körperteilen schwarz geworden. Die Mohren des Gebirges! Durch viele Jahre haben sie davon gelebt, jetzt bei der Neuordnung der Dinge gehen sie betteln.

Gefüllt mit der Flüssigkeit müssen nun die Klautsche im Winter 4 bis 4 œ Stunden, im Sommer 2 Stunden im Sonnenschein liegen, dann werden sie aufgestellt, damit die überschüssige Flüssigkeit abrinnen kann. Sie werden in einen Topf gestellt und dann gekläutschelt, das heißt mit einer englischen dünnen, messerartigen Feile Perle um Perle abgefeilt, so daß man dann die Perlen fertig zum Anreihen gewinnt. Übrig bleiben die „Stutzl“ und die Spitzen. Die Perlen werden auf Baumwollfäden angereiht, entweder durchwegs gleichfärbige oder Kombinationen von Farben-und Silbereinzugperlen. Ist dies geschehen, dann werden die schlechten Perlen von den Schnüren ausgequetscht, d. h. sie werden gedrückt. Nun erst werden je zwölf Schnüre zu einer Masche und je zehn Maschen zu einem Bund zusammengetan. Vorher werden die Maschen zum Trocknen aufgehängt, zumeist auf Schragen, die über dem mächtigen Kacheloven hängen.

Die Stutzl und Spitzen werden gesammelt und müssen and die Produktivgenossenschaft abgeliefert werden. Dieses einst völlig wertlose Abfallprodukt wurde in der guten Zeit weggeworfen. Als aber die Zeit der wildesten Massenproduktion da war, da gab es Exporteure, die sich nicht scheuten, auch die „Stutzl“, und zwar als Perlen in den Handel zu bringen. Daß dadurch die Industrie gemordet wurde, war ihnen gleich. Perlenbläser erzählen, daß damals, in dieser schlimmen Zeit, Leute von Haus zu Haus gingen, um die „Stutzl“ um einen Pappenstiel zusammenzukaufen, ja, daß Andere sogar das bereits weggeworfene Abfallprodukt im Wald oder sonst auf Ablagerungsplätzen auflasen und durch den Verkauf den Niedergang der Industrie beschleunigten. Die Maßregel der Produktivgenossenschaft wird dadurch begreiflich.

Über die Wirkung der Produktivgenossenschaft befragt, äußerte unser Perlenbläser, daß heute der Arbeiter wenigstens mit Sicherheit auf seinen allerdings auch noch geringen Verdienst rechnen kann. Früher wußte man am Samstag nie, wie viel man bekommen werde. Heute wurde ein Kreuzer per Bund abgezwickt, am nächsten Samstag wieder ein halber, bis es schließlich zum Streik gekommen ist. Die besten Arbeiter aus der Reihe der Organisation haben sich vor einem Streik gefürchtet. Das Wirken der Genossenschaft ist segensreich. Sie hat heute nur einen Feind. Der heißt

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Arbeitslosigkeit. Diese würde der Genossenschaft einen Rückschlag geben. Zugrundegehen kann sie nicht mehr.

Die Stube ist gräumig und sauber. Das junge kinderlose Ehepaar hat leidlich sein Darauskommen, umsomehr, da der Mann sein Zeichentalent auch hie und da mit auszunützen versteht. Er macht nach Photographien lebensgroße Kreideportraits, so gut es eben ein Mann ohne jede Schulung treffen kann. Aber nicht bei allen Perlenbläsern ist es so nett und sauber.

*

Acht Mägen und eine Arbeitshand. Es war in einem der Perlenbläserdörfer. In den Frühstunden an einem Feiertag begannen wir unsere Wanderung zu den familiengesegneten Perlenbläsern. Wir brauchten nicht lange zu suchen. „Da gibt’s Kinder, da fahlts nenemieh [Nimmermehr] dro.“ Einem barfüßigen Schwarm folgen wir in ein Haus. Wir öffnen die Türe und haben schon ein tieftrauriges Elendsbild vor uns. Rechts beim Eingange sitzt auf einem Holzstock eine ältlich aussehende Frau und schält Kartoffel aus einem Korb in ein großes Häfen, das vor ihr steht: die Feiertagskost der Perlenbläserfamilie. Hinter ihr steht ein Tisch, darauf ein Topf, in den eingezogene Klautsche zum Ablaufen gestellt sind, eine starke Flasche und eine Küchenlampe mit zerbrochenem Zylinder. Es ist das chemische Laboratorium des Perlenbläsers. An den Tisch reiht sich an der zweifenstrigen Wand eine Bank, die mit allerlei Hausrat angeräumt ist: eine Schultasche, Kinderhüte aus gröbstem Stroh, Kleidungsstücke. Solche hängen auch an der Wand. Ein Fenster ist verhängt. Auf der Bank sitzt ein kleiner schmieriger Junge. Die Frau hat 6 von der Gattung. Der älteste ist 9, der jüngste Ÿ Jahre alt. Der Kaiser braucht Soldaten! Werden aus diesen verkümmerten Menschenpflanzen je kriegstaugliche Männer werden? Die Frau wird gesprächig. „Bei uns ist’s eben schlecht. Ich verdiene mir gar nischt. Da mecht eben a Verdienst sein. Das ist Alles noch zu wenig für so eine Familie, wenn nur ein Vater allein tut arbeiten, wo sie jetzt doch mehr zahlen tun. Den Winter ist mir schon oft das Leben zuwider geworden. 5 bis 6 Gilden, mieh hot’s nischt a Woche...“, so spricht sie fort, während ich mich weiter im Raum umsehe. Anschließend an die Bank steht in der Ecke der Arbeitstisch des Bläsers, eines hageren, verfallenen Mannes, dem die Elendsjahre doppelt tiefe Furchen in sein schlaffes Antlitz gegraben haben. Er ist Mitte der Dreißig, mit der Altersschrift eines kränklichen Vierzigers im Gesicht. Ihn hat es wohl mehr hergenommen wie seine etwas jüngere Frau,

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die allerdings auch jetzt, bei Licht besehen, Niemand für eine Dreißigjährige halten könnte.

Der Bläser hat sich eine eigene Blasemaschine gemacht. Ein im Knie gebogenes Glasrohr, an dem ein Schlauch hängt, stellt die Verbindung zwischen Blasebalg und dem Stengel her. An dem Tisch ist noch ein zweiter solcher primitiver Apparat angebracht. An diesem arbeitet die Mutter der 6 Kinder, wenn ihr dazu Zeit bleibt.

In der der Türe gegenüberliegenden, gleichfalls zweifenstrigen Wand steht eine Bank, davor der Eßtisch und um diesen 4 Sessel. An der Wand links steht das einzige Bett, das die achtköpfige Familie besitzt. Darin schläft die Mutter mit dem zweitjüngsten Kind. Das jüngste schläft in der Wiege, die neben dem Bett steht. Der Vater mit dem ältesten hat am kalten zugigen Dachboden seinen Unterschlupf, der zweitälteste schläft im Zimmer auf einem Strohsack und die beiden mittleren, Bauxeln von 2 und 3 Jahren, in der Bettlade. „Im Winter,“ sagt die Mutter, „sind die Kinder und ich ganz erfroren, weil wir zu wenig Bettzeug haben. Den ganzen Winter hatte ich nur eine Bettdecke zum Zudecken und hier am Barge ist es kalt. Da ist es manchmal 2 Uhr Früh geworden, bis ich eingeschlafen bin. Im Sommer ist es wieder zu heiß. Es darf kee Fenster nie geöffnet war’n wegen der Stichflamme.“

Die Frau hat in zehnjähriger Ehe 9 Kinder gehabt. „Es kostet immer Geld, wenn sie auf die Welt kommen und wenn sie sterben auch wieder. An manchem Ort haben sie gar keine und die hätten gerne welche!“ Um zu prüfen, ob der Perlenbläser schon versucht hat, dem Kindersegen eine unnatürliche Grenze zu setzen, warf ich die Frage ein. „ Was kann ich dafür,“ sagte die Frau einfach, „da haben wir viel versucht. Die Reichen haben Mittel. Es heißt, es ist ein Verbrechen, wenn man so viele Kinder in die Welt setzt. Aber ich weiß jetzt schon etwas. Wenn ich Dr. X’s Büchl zum Lesen kriegen kann, dann ist’s aus.“ Heilige Einfalt, die sich Vorwürfe über den Kindersegen macht, der nur darum zum Fluche wird, weil der Familienvater, der eigentliche Förderer des Staats, nach der heutigen Ordnung der Dinge am stärksten belastet ist. Die Perlenbläserin rechnet sich die prompte Erfüllung der natürlichen Funktionen selber als Verbrechen an, die ungerechte Güterverteilung unserer Zeit empfindet sie als Strafe. Sie ahnt es nicht einmal, daß eine Zeit auch für die Arbeitsmenschen kommen wird, in der Kindersegen wirklich Segen und nicht Fluch für die Eltern sein wird, wie es heute noch der Fall ist.

Über dem Bette schwebt die Hängstange, an der die Perlen getrocknet werden. Jetzt ist die Stange mit Polstern und Kleidern

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behangen. An der vierten Wand, in die die Türe mündet, ist der Küchenraum des Zimmers. Der Ofen steht links von der Türe, wenn man eintritt. Er ist mit allerlei Häfen angeräumt. Kinderkleider sind zum Trocknen auf ihn gelegt. Vor dem Ofen steht eine ebenfalls angeräumte Bank, neben dieser liegt ein Männerstifel. An der Bettwand hängen Kleider und Wäsche und daneben ein kleiner Wandkasten, auf und in dem Geschirr steht. So sieht es in der Stube des kindergesegneten Perlenbläser aus. Die Unordnung und Unsauberheit des Elends – wohin man sieht. Dann kommt wieder die Rede auf die Kinder: „Wenn wir nur schon eines aus dem Gröbsten hätten, daß es helfen könnte, oder wenn das älteste wenigstens ein Mädchen wäre.“ Ein neunjähriges Mädchen, das wäre schon eine Stütze der Mutter!

Der Mann arbeitet von 7 Uhr Früh bis 10 Uhr Abends, und die Frau hilft ihm in jeder Minute, die sie der häuslichen und der Arbeit als Mutter abringen kann. Früher wurde täglich bis 1 und 2 Uhr Früh gearbeitet. Damit ist es heute schon besser. Sonst freilich ist der Mehrverdienst des Bläsers ausgeglichen, daß die Kinder größer und hungriger werden. Täglich ein Laib Brot zu 30 Kreuzern und 2 bis 3 Vierlich [1 Vierlich] ist zirka 5 Liter. Kartoffel, jedes zu 15 bis 16 Kreuzer: das bildet die Hauptnahrung. „Wenn nicht sehr viel gekocht werd, dann liegen die Kinder am Brote.“ Sonst braucht die Frau noch in der Woche:

  1 bis œ Kilo Zucker -. fl. 70 kr.  
  1 bis 2 Kilo Mehl à 19 kr. -. fl. 27 kr.  
  Milch 1. fl. 25 kr.  
  15 Deka Kaffee -. fl. 26 kr.  
  Œ Kilo Salz -. fl. 4 kr.  
 

Tonnenfett
[Das von den Faßdanben der Schmalzfässer zusammengekratzte Fett]

-. fl. 10 kr.  
  œ Pfund Butter -. fl. 25 kr.  
  Dazu 7 Laib Brot à 30 kr. -. fl. 10 kr.  
  15 Vierlich Kartoffel à 15 kr. -. fl. 25 kr.  
   
 
Die Wochenrechnung beträgt also ohne Fleisch, das gar nie auf den Tisch kommt. 7. fl. 22 kr.  

Will die Familie so „gut“ leben, dann muß die Frau verflucht mit darüber sein, denn der Bläser verdient kaum mehr als 6 fl., und außer dem Magen muß auch das Wohnungsbedürfnis befriedigt und noch manches Andere beschafft werden, wie Licht und Heizung. Zins zahlt die Familie 32 Gulden jährlich,

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also in der Woche zirka 60 Kreuzer. Das Alles muß verdient werden, weshalb die Frau fest mitarbeiten muß. Während wir die Wirtschaftsrechnung aufstellten, nahm sie den Jüngsten auf den Arm. Bei der Rechnungspost: Butter, sagt sie mit Betonung: Ein halbes Pfund auf die ganze Woche. Die Kinder müssen das Brot merschtenteels trocken essen.“ Dabei herzt und küßt sie das Kleine am Arm. Der Abglanz rührender Mutterliebe strahlt von dieser einfachen Szene aus.

*

Bei Fertigmachern. Es war in Mardorf, dem malerisch an den Abhang hingebauten Perlenbläserdorf, zu dessen Füßen die schöne Kamnitz fließt. Wir kehren bei Fertigmacherinnen ein. Ein dreijähriges Kindermädchen ist die erst Erscheinung, die uns begegnet. Die Kleine wiegt ihre vierteljährige Schwester in Schlaf. Die Mutter ist Fertigmacherin, um auch etwas zum Haushalt beizutragen, den der Mann, ein Hüttenarbeiter, allein nicht bestreiten kann. Er verdient 1 fl. 20 kr. im Tag. Ist aber sehr schwach, so daß er die Arbeit nie lange aushält. Die Frau verdient 1 Gulden in der Woche. „Da muß man sich sehr zusammennehmen, wenn man so viel verdienen will. Manchmal kommt wan wenig, manchmal gar nicht dazu.“ Der Frau obliegt auch die Sorge für 4 Kinder von Œ bis zu 7 Jahren. Das 7jährige hilft der Mutter Perlenanreihen. Die Wohnung ist eng und klein. Die sechsköpfige Familie hat ein Bett, in dem die Mutter wie eine Henne mit ihren Kücklein schläft. Das Jüngste liegt in der Wiege, der Vater auf einem Strohsack. Es ist ein jammervolles Dasein. Es ist aber noch leidlich gegen das Bild, das wir im nächsten Moment schauen.

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Der Jammer der Witwe. Während wir mit der Frau noch sprechen und das Elendsbild unserem Gedächtnisse einprägen wollen, öffnet sich die Tür, und hüftelnd schiebt sich ein menschliches Knochengerüst herein. Es ist eine Frau in den Vierzigern. Zum Entsetzen hager. Die Augen liegen tief in den Höhlen, die Backenknochen treten hervor. Schlaff hängt über ihnen die Haut, wie ein faltiger Vorhang zur Verhüllung des Totenkopfs. Ein hübsches schwarzgelocktes Mädchen schreitet zaghaft neben ihr. Sie gesellen sich zu unserer Gruppe. Das Kind schmiegt sich scheu an die Mutter. Diese drückt den Lockenkopf mit dürren Händen and ihren Leib, der in einem schmierigen, faltenreichen Kittel steckt. Welch ein Kontrast! Der verfallene Leib der Frau und das frische Kindergesicht, von dem nicht der Jammer solchen Daseins abzulesen ist. Die Frau hustet über den Kopf des Kindes hinweg. Wie Todeshauch stiebt es von ihrem Munde weg ins Zimmer. Wer könnte

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den ganzen gefährlichen Ekel dieser Szene wiedergeben! Die Umgebung der Frau empfindet es als nichts Absonderliches. Die Arme windet und krümmt sich beim Husten. Es ist also ob ihr der Leib einknicken wollte. Sie ringt nach Atem. Wie Hauch lösen sich nun die Worte von ihren Lippen. Sie ist lungentuberkulos. Was fehlt Ihnen denn? – Sehr - - viel. 20 Wochen bekam sie von der Krankenkasse Unterstützung, da ging’s noch – aber jetzt muß sie wieder arbeiten, und sie ist noch kränker als je. Sie und ihr braves Töchterchen verdienen im Tag 28 bis 30 kr. „Da lab’ich davo.“ Sie ist auch eine Fertigmacherin. „Einer zahlt so viel, der Andere wieder weniger. Die Leute reißen Einem ja die Arbeit aus den Händen weg. Es ist ein Elend, Herr! Es sind zu viel Leute, die auf diese Arbeit angewiesen sind. Sie streiten sich förmlich darum. Für das Tausend (1000 Dutzend) zahlen sie 40 kr. Zwei Tage muß ich haben zum Fertigmachen, zum Kläutscheln und Anreihen. Wenn das Kind nicht mithilft, was bleibt dann? Die Stutzl muß man auch mitbringen. Früher konnte der Fertigmacher wenigstens die Stutzl behalten, er könnte dafür wenigstens die Wolle haben. Man bekam 5 kr. für das Kilo Stutzl. Die Gemeinde – sie nannte ein kleines mährisches Dorf – gibt auch nichts. Es ist eine gehörige Not.“

Wieder bekam sie einen Hustenanfall. Sie preßte die sechsjährige Anna fest an sich und begann zu weinen. „ Im Gasthaus bekommen wir alle Tage ein Töpfl Suppe, das ist Alles.“ Jetzt legte sie die welke Hand auf die Stirne des Kindes. „Wenn ich Dich nicht hätte,“ sagt sie liekosend und dann zu mir: „Sie muß mir fleißig helfen und noch die Gänge machen.“

Die Inhaberin der Wohnung hatte, während mir ihre verwitwete Nachbarin so beweglich das Leid klagte, das Zimmer zur Notdurft aufgeräumt. Auf die Frage, wie viel Zins sie zahlt, sagt sie mir: 10 fl. im Jahr. Als wir wieder draußen auf freiem Bergeshang waren und nach dem Aufenthalt in dem fürchterlichen Dunstkessel dieser Stube gierig die frische Luft einsogen, sagte mir mein Führer, daß die Frau 32 fl. Zins zahlte. Sie habe mich für einen Herrn vom Gericht gehalten und darum den Zins so niedrig angegeben, um der gleichfalls armen Hausfrau keine Verlegenheiten mit der Steuerbehörde zu bereiten. Alle übrigen Angaben bestätigte der Vertrauensmann als wahr. Das Elend, das wir geschaut, hatte dies schon früher besorgt.

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Die Knechtperle. In Marienberg werden wir mit einer rückständigen Art der Perlenerzeugung bekannt. Wir sehen die Herstellung der Knechtperle. Der „Knecht“ ist ein Drahtgestell, auf das der Stengel zum Anwärmen gelegt wird. Der Bläser bedient